Pflicht zur Sicherstellung der elektronischen Erreichbarkeit auch ohne beA?

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§ 174 ZPO und beA

Es kommt selten vor, dass organisatorische Angelegenheiten der Rechtsanwaltschaft und verfahrensrechtliche Fragestellungen öffentliche Aufmerkamkeit erlangen. Kurz vor Jahresende ist solches dem besonderen elektronischen Anwaltspostfach, dem „beA“, gelungen. Eigentlich sollten seit dem 1. Januar 2018 alle Rechtsanwälte verpflichtet sein, ein solches Postfach vorzuhalten (§ 31a Abs. 6 BRAO 2018), um hiermit ihrer ab demselben Zeitpunkt geltenden Verpflichtung nachzukommen, einen sicheren Übermittlungsweg für die gerichtliche Zustellung elektronischer Dokumente zu eröffnen (§ 174 Abs. 3 S. 4 ZPO 2018). Das ist allerdings nicht mehr möglich, nachdem die für die Einrichtung des Postfachs zuständige Bundesrechtsanwaltskammer das System bis auf weiteres außer Betrieb genommen hat. Hintergrund war das Bekanntwerden massiver Sicherheitslücken.[1]Ausführlich hierzu die golem.de-Beiträge „Bundesrechtsanwaltskammer verteilt HTTPS-Hintertüre“ v. 23.12.2017 und „Noch mehr Sicherheitslücken im Anwaltspostfach“ v. … Continue reading Diese sind, soweit erkennbar, durchaus grundlegender Natur, so dass mit einer kurzfristigen Wiederinbetriebnahme eher nicht zu rechnen ist. Das wirft die Frage auf, wie sich das auf die seit dem 1. Januar 2018 geltende Verpflichtung auswirkt, einen sicheren Übermittlungsweg einzurichten.

Berufsrechtliche Verpflichtung aus § 31a Abs. 6 BRAO 2018

Die Bundesrechtsanwaltskammer hat sich insoweit bislang auf die Aussage beschränkt, dass mit der Deaktivierung des beA „die von uns Rechtsanwältinnen und Rechtsanwälten grundsätzlich ab 1. Januar 2018 zu beachtende passive Nutzungspflicht natürlich nicht erfüllt werden“ könne.[2]BRAK, Sondernewsletter v. 3.1.2018. Das greift den allgemeinen Rechtsgrundsatz auf, dass Unmögliches nicht verlangt werden kann („ultra posse nemo obligatur“).

Die damit einhergehende Beschränkung der anwaltlichen Pflichten ist sicher zutreffend, was die Verpflichtung aus § 31a Abs. 6 BRAO 2018 angeht, „Zustellungen und den Zugang von Mitteilungen über das besondere elektronische Anwaltspostfach zur Kenntnis zu nehmen“. Denn wenn das Postfach aufgrund der Deaktivierung durch den Betreiber nicht erreichbar ist, können die Rechtsanwälte hierüber eingehende Zustellungen und Mitteilungen objektiv schlichtweg nicht zur Kenntnis nehmen.

Damit wird freilich zunächst nur die berufsrechtliche Dimension der Problematik ausgeschöpft, was mit Blick auf die hierauf beschränkte Kompetenz der Bundesrechtsanwaltskammer auch nachvollziehbar erscheint.

Prozessrechtliche Verpflichtung aus § 174 Abs. 3 S. 4 ZPO 2018

Neben der spezifischen berufsrechtlichen Verpflichtung aus § 31a Abs. 6 BRAO 2018 sieht jedoch § 174 Abs. 3 S. 4 ZPO 2018 vor, dass die „in Absatz 1 Genannten … einen sicheren Übermittlungsweg für die Zustellung elektronischer Dokumente zu eröffnen“ haben, also u. a. die in § 174 Abs. 1 ZPO genannten Anwälte. Der Pflicht zur Eröffnung eines sicheren Übermittlungsweges wird ausweislich der Gesetzesmaterialien nachgekommen, wenn man als Teilnehmer eines „sicheren Übermittlungswegs registriert und für das Gericht über diesen Weg erreichbar“ ist.[3]Begründung zum Gesetzentwurf der Bundesregierung, BT-Drs. 17/12634, 20, 28. Was sichere Übermittlungswege sind, ergibt sich wiederum gemäß § 174 Abs. 3 S. 3 ZPO 2018 aus § 130a Abs. 4 ZPO 2018.

Dazu zählt zwar auch der „Übermittlungsweg zwischen dem besonderen elektronischen Anwaltspostfach nach § 31a der Bundesrechtsanwaltsordnung … und der elektronischen Poststelle des Gerichts“ (Nr. 2), der gegenwärtig aus den genannten Gründen nicht gangbar ist. Das Gesetz sieht daneben aber auch andere sichere Übermittlungswege vor, namentlich über ein De-Mail-Konto (Nr. 1). Die Anwälte sind also für die Erfüllung der Verpflichtung aus § 174 Abs. 3 S. 4 ZPO 2018 im Prinzip nicht auf das beA angewiesen, sondern können auch einen anderen Übermittlungsweg wählen.[4]Siehe hierzu auch die Begründung zum Gesetzentwurf der Bundesregierung, BT-Drs. 18/9521, 81, 108 f. Folgt hieraus also, dass sie bis zur Reaktivierung des beA von einer dieser Möglichkeiten nun auch tatsächlich Gebrauch machen müssen? Eine solche Sichtweise entspräche jedenfalls dem Wortlaut der Vorschrift und dem legislatorischen Ziel, ab dem 1. Januar 2018 elektronische Zustellungen gerade auch an Rechtsanwälte möglich zu machen.

Zwei Lösungsmöglichkeiten

Berufsrechtliche Nutzungspflicht als konkretisierende Spezialregelung?

Der Gesetzgeber hat jedoch – wenn auch unter einem anderen Blickwinkel – erkannt, dass bei einer allein den Wortlaut heranziehenden Auslegung der Verpflichtung nach § 174 Abs. 3 S. 4 ZPO 2018 auch ohne Rückgriff auf das beA nachgekommen werden könnte. Gerade aus diesem Grund hat er die passive Nutzungspflicht in § 31a Abs. 6 BRAO 2018 geschaffen.[5]Art. 1 Nr. 8 lit. c des Gesetzes zur Umsetzung der Berufsanerkennungsrichtlinie und zur Änderung weiterer Vorschriften im Bereich der rechtsberatenden Berufe, BGBl. 2017 I, 1121. Damit sollte verhindert werden, dass „die Gerichte gesonderte Listen über die jeweilige Erreichbarkeit der Rechtsanwälte führen müssten“, wohingegen über das beA „sämtliche etwa 165 000 Rechtsanwälte ohne weiteres für elektronische gerichtliche Zustellungen erreichbar sind“.[6]Begründung zum Gesetzentwurf der Bundesregierung, BT-Drs. 18/9521, 81, 108. Deshalb würde „[j]eder nicht über das besondere elektronische Anwaltspostfach erreichbare Rechtsanwalt … die Wirkung des gesamten, durch das Gesetz zur Förderung des elektronischen Rechtsverkehrs mit den Gerichten für die elektronische Kommunikation zwischen Rechtsanwälten und Gerichten sowie von Anwalt zu Anwalt vorgesehenen Systems gefährden“.[7]Begründung zum Gesetzentwurf der Bundesregierung, BT-Drs. 18/9521, 81, 108 f.

Man könnte daher in § 31a Abs. 6 BRAO 2018 eine Spezialregelung zu § 174 Abs. 3 S. 4 ZPO 2018 für Rechtsanwälte sehen. In diese Richtung weist insbesondere eine Formulierung des Bundesverfassungsgerichts, das mit Beschluss vom 20. Dezember 2017[8]Für den Hinweis auf diese Entscheidung ist Joachim Hagmann zu danken. eine im Kern gegen diese Regelung gerichtete Verfassungsbeschwerde nicht zur Entscheidung angenommen und hierbei Folgendes ausgeführt hat:

„Die Norm konkretisiert damit die nach § 174 Abs. 3 Satz 3 und 4 der Zivilprozessordnung (ZPO) ab dem 1. Januar 2018 bestehende Pflicht für Rechtsanwältinnen und Rechtsanwälte, einen sicheren Übermittlungsweg für die Zustellung elektronischer Dokumente zu eröffnen.“[9]BVerfG, Beschl. v. 20.12.2017 – Az. 1 BvR 2233/17 , Rn. 2.

Damit würde die aus § 174 Abs. 3 S. 4 ZPO 2018 folgende Verpflichtung für Rechtsanwälte auf die aus § 31a Abs. 6 BRAO 2018 folgende passive beA-Nutzungspflicht beschränkt. Da dieser objektiv bis auf weiteres nicht nachgekommen werden kann, wären die Rechtsanwälte damit zugleich der Verpflichtung aus § 174 Abs. 3 S. 4 ZPO 2018 enthoben.

An einem solchen Verständnis könnten allerdings deshalb Zweifel bestehen, weil es sich bei § 174 Abs. 3 S. 4 ZPO 2018 um eine prozessrechtliche und bei § 31a Abs. 6 BRAO 2018 um eine berufsrechtliche Vorschrift handelt. Das könnte trotz der grundsätzliche Ausrichtung am selben Ziel unterschiedliche Regelungszwecke nahelegen. Hierauf deutet auch eine Formulierung in den Materialien zu § 31a Abs. 6 BRAO 2018 hin, der zufolge eine „vor der zivilprozessualen passiven Nutzungspflicht einsetzende berufsrechtliche Sanktionierung einer Nichtnutzung des besonderen elektronischen Anwaltspostfachs … nicht sachgerecht“ erscheine, weshalb die „berufsrechtliche Nutzungspflicht“ ebenfalls zum 1. Januar 2018 eingeführt werden solle. Das scheint dafür zu sprechen, dass auch im Gesetzgebungsverfahren von zwei nebeneinander bestehenden Nutzungspflichten ausgegangen wurde, auch wenn ihnen durch ein und dieselbe Handlung – nämlich die Nutzung des beA – nachgekommen werden kann.

Jedenfalls: teleologische Reduktion von § 174 Abs. 3 S. 4 ZPO 2018

Selbst in diesem Fall wäre aber nicht zu verkennen, dass der Gesetzgeber bei Schaffung des § 174 Abs. 3 S. 4 ZPO 2018 davon ausgegangen ist, dass mit Blick auf die dort verankerte Nutzungspflicht „Rechtsanwälte … über das elektronische Anwaltspostfach gemäß § 31a BRAO-E … generell für gerichtliche Zustellungen erreichbar“ sind.[10]Begründung zum Gesetzentwurf der Bundesregierung, BT-Drs. 17/12634, 20, 28. Die Verpflichtung der Bundesrechtsanwaltskammer zur Einrichtung besonderer elektronischer Anwaltspostfächer sollte vor diesem Hintergrund die elektronische Erreichbarkeit jedes einzelnen Rechtsanwalts sicherstellen.[11]Begründung zum Gesetzentwurf der Bundesregierung, BT-Drs. 18/9521, 81, 108, unter Bezugnahme auf die Begründung zum Gesetzentwurf der Bundesregierung, BT-Drs. 17/12634, 20, 38. Damit sollte die oben bereits erwähnte einfache Erreichbarkeit sämtlicher Rechtsanwälte für die Gerichte sichergestellt werden.

Im Gesetzgebungsverfahren ist ausweislich dieser Annahmen nicht damit gerechnet worden, dass die zivilprozessuale Erreichbarkeitspflicht greifen würde, ohne dass das beA verfügbar ist. Diese gesetzgeberische Prämisse hat sich nun als falsch herausgestellt. Ist eine Vorschrift zwar vom Wortlaut her anwendbar, sprechen aber Sinn und Zweck, ihre Entstehungsgeschichte und der Gesamtzusammenhang der einschlägigen Regelungen gegen eine uneingeschränkte Anwendung, ist dem methodisch im Wege der teleologischen Reduktion zu begegnen, ist die Vorschrift also hinsichtlich eines Teils der vom Wortlaut erfassten Fälle unanwendbar.[12]BVerfG, NJW 1997, 2230, 2231 (Beschl. v. 7.4.1997 – Az. 1 BvL 11/96). Es geht somit um eine verdeckte Regelungslücke im Sinne einer planwidrigen Unvollständigkeit des Gesetzes.[13]BGH, NJW 2017, 1378, 1385 Rn. 65 (Urt. v. 21.2.2017 – Az. XI ZR 185/16).

Die Voraussetzungen für eine solche teleologische Reduktion sind hier gegeben. Die Entstehungsgeschichte und der Gesamtzusammenhang der einschlägigen Regelungen, namentlich die parallele Schaffung der zivilprozessualen Erreichbarkeitspflicht und des beA, sprechen deutlich dafür, dass die Verpflichtung aus § 174 Abs. 3 S. 4 ZPO 2018 für Anwälte nur dann gelten sollte, wenn die generelle Erreichbarkeit aller Rechtsanwälte über das beA gegeben ist. Da dieses System gefährdet würde, müssten die Gerichte Listen über die individuelle Erreichbarkeit aller Rechtsanwälte führen, was bei einer Nutzung anderer sicherer Übermittlungswege der Fall wäre,[14]Begründung zum Gesetzentwurf der Bundesregierung, BT-Drs. 18/9521, 81, 108 f. sprechen auch Sinn und Zweck der Vorschrift für einen insoweit planwidrig „überschießenden“ Wortlaut. Es spricht daher alles dafür, dass § 174 Abs. 3 S. 4 ZPO 2018 in Ergänzung des unzureichend normierten Regelungsplans wie folgt zu lesen ist:

„Die in Absatz 1 Genannten haben einen sicheren Übermittlungsweg für die Zustellung elektronischer Dokumente zu eröffnen, Anwälte jedoch nur, soweit die Nutzung des besonderen elektronischen Anwaltspostfachs nach § 31a Abs. 6 BRAO möglich ist.“

Wie auch immer man es methodisch konstruieren will, kann die Antwort auf die eingangs formulierte Frage im Ergebnis nur lauten: Solange das beA nicht verfügbar ist, sind Anwälte nicht verpflichtet, für gerichtliche Zustellungen einen sicheren Übermittlungsweg einzurichten.

Fußnoten

Fußnoten
1 Ausführlich hierzu die golem.de-Beiträge „Bundesrechtsanwaltskammer verteilt HTTPS-Hintertüre“ v. 23.12.2017 und „Noch mehr Sicherheitslücken im Anwaltspostfach“ v. 4.1.2018.
2 BRAK, Sondernewsletter v. 3.1.2018.
3 Begründung zum Gesetzentwurf der Bundesregierung, BT-Drs. 17/12634, 20, 28.
4 Siehe hierzu auch die Begründung zum Gesetzentwurf der Bundesregierung, BT-Drs. 18/9521, 81, 108 f.
5 Art. 1 Nr. 8 lit. c des Gesetzes zur Umsetzung der Berufsanerkennungsrichtlinie und zur Änderung weiterer Vorschriften im Bereich der rechtsberatenden Berufe, BGBl. 2017 I, 1121.
6 Begründung zum Gesetzentwurf der Bundesregierung, BT-Drs. 18/9521, 81, 108.
7 Begründung zum Gesetzentwurf der Bundesregierung, BT-Drs. 18/9521, 81, 108 f.
8 Für den Hinweis auf diese Entscheidung ist Joachim Hagmann zu danken.
9 BVerfG, Beschl. v. 20.12.2017 – Az. 1 BvR 2233/17 , Rn. 2.
10 Begründung zum Gesetzentwurf der Bundesregierung, BT-Drs. 17/12634, 20, 28.
11 Begründung zum Gesetzentwurf der Bundesregierung, BT-Drs. 18/9521, 81, 108, unter Bezugnahme auf die Begründung zum Gesetzentwurf der Bundesregierung, BT-Drs. 17/12634, 20, 38.
12 BVerfG, NJW 1997, 2230, 2231 (Beschl. v. 7.4.1997 – Az. 1 BvL 11/96).
13 BGH, NJW 2017, 1378, 1385 Rn. 65 (Urt. v. 21.2.2017 – Az. XI ZR 185/16).
14 Begründung zum Gesetzentwurf der Bundesregierung, BT-Drs. 18/9521, 81, 108 f.